An diesem Tag wurde es ernst. Keine Ausreden mehr. Keine Tricks.
Warm-up war gestern.
Heute - die Route zu Ulsanbawi.
Als wir im Frühstücksaal erschienen, wurde eine fröhliche koreanische
Pop-Melodie durch Tschaikowskijs "Schwanensee" ersetzt. Musste
es tatsächlich so ernst sein? Oder hat das Hotelpersonal versucht,
europäischen Musikgeschmack zu treffen? OK, das war immerhin besser,
als "Sterbender Swan" Saint-Saëns...
Dermaßen beflügelt, schlossen wir uns dem Touristenschwarm an, der
Richtung Ulsanbawi zog.
Diese Strecke gilt als die längste und schwierigste von den vier, die
auf der Karte des Nationalparks dargestellt sind. Lediglich 700 m
gelten als grün - "easy". Weitere 1,5 km, "gelb", führen zum Fels
Heundeulbawi. Nach der Erfahrung vom Vortag hatten wir den Verdacht,
dass wir uns mit diesem Zwischenziel zufrieden geben würden.
Warum? Weil die letzten 1,5 km der Strecke, die auf die Felsformation
Ulsanbawi klettern, als "rot" - "hard" gekennzeichnet sind. Und
koreanisches "hard" ist wie koreanisches "hot spicy" - für einen
europäischen Normaltourist ist es eine ernstzunehmende Warnung. Oder
eine Schweiß- und Tränen-Garantie.
Die Route fängt am Hinterhof des Sinheungsa Tempels an.
Wir sind bereit
- Flaschen mit dem Wasser der Tempelquelle gefüllt, Rucksäcke
festgezurrt. Das Zwischenziel ist das Ziel.
Auch an diesem Tag folgte der Weg den Kurven eines kleinen Bachs. Es
roch nach frischem Wasser und sonnenerwärmtem Wald.
Um uns herum spazierten Naturliebhaber in bunter Sportkleidung.
Damen schützten sich durch große Schirmkappen aus
Plastik vor Sonnenbrand. Manche Spatzierende hatten Trekkingstöcke im
Einsatz. Andere
trugen Mobiltelefone in der Hand und teilten ihre Musiksammlung mit
ihren Nächsten.
Stellen Sie sich vor: "Ta-da-da-dam-m!" Aha, ein Beethoven-Liebhaber im
Anmarsch...
Die "grüne" Teilstrecke ist perfekt ausgebaut, breit und flach.
Der Weg führte unter anderem an alten Graburnen vorbei. Die Gegend um
diese Urnen ist mit Steinpyramiden übersät -man baut sie als Bitte um
Glück auf, entsprechend einem alten Brauch.
Schon am Anfang der "gelben" Teilstrecke legte Mutter Natur einem die
ersten Steine in den Weg. Und je weiter, desto mehr. Bald schritt man
bergauf von einem basketballgroßen Brocken auf den anderen. Außerdem
wurde es immer heißer im Wald, und der Fotorucksack fühlte sich wie
meine liebe Not an. Wir fingen an, Pausen zu machen.
Während einer dieser Pausen lernten wir Monica und Dong kennen, ein
koreanisches Paar aus Chicago. Wir mit Monica äußerten übereinstimmend
Zweifel, dass man unbedingt zum Gipfel musste. Dong pflichtete bei,
dass der Ausblick wahrscheinlich nicht der Mühe wert wäre - die Wälder
sind ja noch grün.
Im weiteren Verlauf übernahmen mal sie, mal wir die Führung auf dem
Pfad. In Pausen trafen wir immer wieder aufeinander und quatschten über
Vorurteile, Sprachunterschiede und überraschende Schicksalswendungen.
Wie das immer so ist, kaum hat man sich die Ziele heruntergeschraubt,
pakt einen der Ehrgeiz. Bald schaukelten wir uns mit Monica und Dong zu
einem regelrechten Wettbewerb auf, im sportlichen Stock- und Steinlauf.
Über unser angestrebtes Zwischenziel, den Felsen Heundeulbawi und die
daneben stehende buddhistische Eremitage, schossen wir hinaus, ohne zu
stoppen. Dass Heundeulbawi ein Wackelstein ist, habe ich erst beim
Schreiben des Korea Reports herausgefunden.
Den Unterschied zwischen einer "gelben" Strecke und einer "roten"
bekamen wir sofort zu spüren. Wodurch? Man
stelle sich einen Dinosaurier vor, am besten einen Stegosaurier mit
einem Rückenkamm. Ein gelb gekennzeichneter Pfad führt über seinen
Rücken. Ein rot gekennzeichneter - den Kamm hoch.
Die Höhe des Ulsanbawi beträgt 873 Meter. Die Länge der roten
Teilstrecke vom Fuss zum Gipfel entspricht ca. 1,5 km. Das ergibt eine
durchschnittliche Neigung von 35 Grad. Hinzu kommt die Größe der
zu überwindenden Steine - sie ist auf dem erstem Bild auf dieser Seite
gut sichtbar.
Um einen von diesen Felsen bogen plötzlich zwei alte Bekannte - die
Schweizer, die wir beim DMZ-Tour kennengelernt haben. Sie waren bereits
oben und schwärmten von einer atemberaubenden Panorama. Ich fand, der
Weg dorthin war schon atemberaubend genug.
Da, wo Granit vertikal in den Himmel stieg, waren die uns bekannten
orangenen Leiter angebracht.
Man kann diese Leiter nicht in einem Sprung bewältigen, nur Schritt für
Schritt. Schritt für Schritt, einer nach dem anderen. Der Kopf wird
frei, man konzentriert sich nur auf das Wesentliche - auf das Hier, das
Jetzt und den eigenen Körper. Zwei Füße. Achthundert Stufen. Schritt
für Schritt.
Plus die ganze Fotoausrüstung auf dem Rücken, aber die muss nun mal
sein.
Insgesamt ist dieser Teil der Route nicht zu unterschätzen - wir haben
mehrere Menschen getroffen, die an einem Schwächeanfall oder einer
akuten Höhenangst litten.
Oben auf dem Gipfel fanden wir zwei Aussichtsplattformen, eine mobile
Garküche und eine Menge hundemüder Touristen vor. Und eine
überwältigende Panorama über das Seorak Gebirge und den vernebelten
Pazifischen Ozean.
Erst jetzt konnte ich die Legende über die Entstehung Ulsanbawis
nachvollziehen. Sie sagt nämlich, dass die schönsten Berge der Welt
eingeladen wurden, um Diamantgebirge zu bilden. Auch die Stadt Ulsan
schickte ihren Gesandten auf den Weg - Ulsanbawi. So groß und
schwerfällig, verspätete sich Ulsanbawi und fand in der Formation
keinen Platz mehr für sich. Auf dem Rückweg war er von dem Ausblick
über die Pazifik so angetan, dass er beschloss, für immer an diesem Ort
zu bleiben.
Hier ist er, ein zwei Kilometer langer Granitkamm, einer der größten im
asiatischen Raum. An dem Tag noch im grünen Sommerpelz.
Übrigens, den Wettbewerb mit Monica und Dong haben wir sehr knapp
gewonnen - sie erschienen sofort hinter uns auf der Aussichtsplattform.
Wir tauschten unsere Koordinaten aus - wie Monica das schön
formulierte, weil wir gemeinsam diesen Weg zum Gipfel geschafft haben,
und das war kein zufälliges Treffen. Sie hatte völlig recht - ohne
Monica und Dong hätten wir nicht die Motivation gehabt, diesen Aufstieg
zu bewältigen.
Auf dem Weg nach unten wurden wir öfters gefragt, ob sich der Aufstieg
lohnt. Wir beschrieben die Panorama als wunderschön. Atemberaubend.
Auf dem grünen Teil der Strecke bogen wir in das erstbeste Restaurant
ein und bestellten das einzige Gericht, dessen Name uns im Menü bekannt
vorkam - Bibimbap.
Bibimbap gilt als die populärste und bekannteste koreanische Speise.
Sogar Finnair serviert sie auf der Flugstrecke nach Seoul.
Man nehme ein Spiegelei, verschiedenes Gemüse und Reis, und bestreue
das Ganze mit Seetang und Sesam - fertig ist Bibimbap. Nahrhaft, aber
nicht schwer - perfekt, wenn man noch eine Route vor sich hat.
Das hatten wir - die alte Festung Gwongeumseong auf dem Dolsan Berg
blieb noch unerkundigt.
Noch ein Aufstieg? Ja. Aber nur, weil der Mensch die Seilbahn bereits
erfunden hat.
Eine Fahrt mit der Seilbahn auf den Dolsan Berg kostete 8.000 Won (ca.
5,60 EUR) pro
Person und dauerte 5 Minuten. Leider kommt die Kabine nicht direkt auf
dem Gipfel an - man muss wieder jede Menge Treppen steigen.
Vor dem Gipfel sah es dann so aus.
Die Ruinen der Festung befinden sich auf der Spitze des Bergs - folgen
Sie mit Ihrem Blick dem Strom der Touristen.
Die Anlage war 1254, zur Zeiten des Kings Gojong, erbaut, um eine
mongolische Invasion abzuwehren. Die Legende dazu behauptet, Herr Kim
und Herr Kwon haben das in einer Nacht geschafft - so stark waren die
beiden.
Wir beide verzichteten.
Machten noch ein paar Fotos vom Seorak Gebirge und der Stadt Sokcho.
Warfen den letzten Blick auf diese wunderbare Berglandschaft und fuhren
wieder herunter.
Auf dem Weg zum Hotel kam mir noch eine alte Pagode vor die Linse.
Stein. Drei Stockwerke. Periode des Vereinigten Silla-Königreichs - 7.
Jahrhundert. Ein Beispiel für pure, schnörkellose Eleganz und
koreanisches Kulturschatz Nr. 443. Steht einfach neben der Straße zum
Nationalparkeingang.
Beim Abendessen ignorierte mein Mann die Warnung "hot spicy" im Menü.
Schweiß und Tränen waren ihm an diesem Abend garantiert.
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